#MiSA BLOG
#MiSA-Report: Volljährig – wie weiter?
«ÜBER18» schliesst eine Beratungslücke für junge Erwachsene in schwierigen Lebenssituationen. Pia Labruyère, Master-Absolventin, hat diese Beratungsstelle initiiert und wurde dafür kürzlich mit dem Prix sozialinfo.ch ausgezeichnet.
«Erwachsen. Aber nicht allein» - mit diesem Slogan wirbt «ÜBER18» um die Aufmerksamkeit junger Erwachsener für ihr Beratungsangebot. Was junge Menschen am Übergang zum Erwachsenenleben im Zusammenhang mit ihrer neuen Selbstständigkeit beschäftigt, kann hier unkompliziert nachgefragt werden. Stress mit Eltern, in der Schule oder Lehre, keine Wohnung, Geldprobleme – junge Erwachsene finden bei ÜBER18 Informationen und konkrete Beratung zu Fragen rund um Ausbildung, Wohnen, Geld, Gesundheit oder Sucht. Der Kontakt erfolgt niederschwellig per WhatsApp, SMS, Telefon oder Mail. Die Beratung ist kostenlos, unbürokratisch und freiwillig. Das ambulante Beratungsangebot ist im Ton persönlich und schliesst eine Angebotslücke für junge Erwachsene im Übergang von der Kinder- und Jugendhilfe hin zur Selbstständigkeit.
Die Person hinter der Idee
Pia Labruyère ist die Person hinter der Idee zur Beratungsstelle für junge Erwachsene. Sie ist Absolventin des Kooperationsmasters der BFH, HSLU und OST und gab nach Abschluss ihrer Masterarbeit das Konzept für das neue Angebot bei «Greenhouse» ein, das innovative Ideen innerhalb des Amts für Jugend und Berufsberatung (AJB) mit Ressourcen unterstützt und begleitet. Im Frühsommer 2021 startet die Sozialarbeiterin das Beratungsangebot als Pilotprojekt des AJB im Kanton Zürich. Grundlage waren die Ergebnisse ihrer Masterarbeit zum Abschluss von Beistandschaften im Kindesschutz. In der Regel endet die staatliche Jugendhilfe mit dem 18. Geburtstag, dann sind die jungen Menschen auf sich allein gestellt. Doch auch nach Eintritt in die Volljährigkeit brauchen junge Erwachsene eine fachkompetente Ansprechperson für verschiedene Lebensbereiche. Davon ist die Sozialarbeiterin Pia Labruyère überzeugt. Das Beratungsangebot ÜBER18 versucht zu überbrücken, wo Unterstützung aus dem familiären und sozialen Umfeld fehlt. Es bietet eine individuelle Begleitung, bei der die jungen Erwachsenen die Beratungsinhalte selbst bestimmen und entscheiden können, ob, wann und wie lange sie eine Beratung in Anspruch nehmen wollen.
Niederschwellig, freiwillig und flexibel
Das Ergebnis nach zweieinhalb Jahren Beratungspraxis: Das ambulante Angebot wird von jungen Erwachsenen stark nachgefragt – vor allem weil es niederschwellig und unkompliziert ist und den Bedarfslagen junger Erwachsener entspricht. Dies zeigt eine Evaluation des Instituts für Soziale Arbeit und Räume (IFSAR) der OST - Ostschweizer Fachhochschule. Maren Zeller und Stefan Köngeter, beide Master-Dozierende und Modulverantwortliche, haben die jungen Erwachsenen zum Nutzen des Angebots befragt. Die zentralen Ergebnisse: Wichtig ist, dass die Beratung freiwillig aufgesucht werden kann und kostenlos ist. Die jungen Erwachsenen schätzen die niederschwellige und unkomplizierte Nutzung «schneller» Kommunikationsmittel wie Messengerdienste, die ihnen das Gefühl geben, dass immer jemand für ihre Anliegen da ist. Es gibt keine Wartezeiten, keine festen Termine. Auch räumlich und inhaltlich ist das Angebot flexibel. Das Gespräch kann überall stattfinden, per Email, über Videocall, Telefon, im persönlichen Gespräch zu Hause oder im Büro von ÜBER18. Die Auftraggebenden sind die jungen Erwachsenen. Sie definieren das Beratungssetting und die Beratungsinhalte.
Vielfältige Unterstützung in schwierigen Lebenslagen
In der individuellen Beratung geht es oft um Alltagsprobleme wie die Klärung finanzieller Angelegenheiten, die Wohnsituation, den Job, Tagesstrukturen oder gesundheitliche Fragen. Doch hinter den Beratungsanliegen liegen meist tiefergehende biographische Themen: Wie kann psychische Gesundheit erlangt, Selbständigkeit erhalten oder Konflikte austariert werden? «Die konzeptionelle Ausrichtung dieses Beratungsangebots stösst in eine klare Lücke des Angebotsspektrums für junge Erwachsene», so die Einschätzung der IFSAR-Studie: «Andere Angebote wie Berufsberatung, Sozialhilfe, Nachbetreuung für Careleaver etc. sind entweder zu hochschwellig oder zu spezifisch ausgerichtet.» Dagegen bietet ÜBER18 eine vernetzte Infrastruktur zur Unterstützung junger Erwachsener.
Vertrauensvoll mit Rat und Tat
Aus Sicht der Betroffenen geht es erstmal darum, ein Problem zu lösen und schnellstmöglich Hilfe zu bekommen. Dabei steht die Beraterin für viele unterschiedliche Unterstützungsformen zur Verfügung – egal, ob es ums Sozialamt, das Ordnen von Briefstapeln, das Ausfüllen von Formularen oder einfach um eine «neutrale Meinung» geht. Die jungen Erwachsenen erlebten in der Beratung, dass ihnen Vertrauen entgegengebracht und kein Druck aufgebaut wird. Gemeinsam werde in der Beratungssituation etwas erarbeitet. Die Beraterin wird als vertrauenswürdige Begleitperson erlebt, die sich für die Anliegen der jungen Menschen einsetzt und auf ein grosses Erfahrungswissen zurückgreifen kann. Die Ratsuchenden gaben an, sie könnten ihre Herausforderungen mithilfe des Beratungsangebots umfassend angehen und mehr Selbstständigkeit erwerben. Das spricht für sich.
Mit Preis ausgezeichnet
Das Projekt zeigt «von der ersten Bedarfseinschätzung bis zum Case Management eine grosse Flexibilität und verbindet Beratungstätigkeit mit Fallbearbeitung», so die Einschätzung der IFSAR-Evaluation. Im letzten Jahr hat ÜBER18 den ersten Preis des «Prix sozialinfo.ch» erhalten, der alle zwei Jahre für ausserordentliche Engagements und Entwicklungen zur Zukunft des Sozialbereichs verliehen wird. Trotz grosser Skepsis von Seiten der Praxis zeigt sich: Niederschwelligkeit in der Beratung gelingt und wird nachgefragt. Mittlerweile sind zwei Personen bei ÜBER18 beschäftigt. Nach knapp zweijährigem Pilotbetrieb soll das Angebot weiterentwickelt und in den Regelbetrieb überführt werden.
Weiterführung in Sicht
So viel steht fest: Das Amt für Jugend und Berufsberatung (AJB) im Kanton Zürich will das Projekt in ein Regelangebot überführen. Doch noch ist nicht klar, wie ein solch niederschwelliges, flexibles Angebot in bestehende Strukturen eingebunden werden kann. Klar ist, das Projekt soll nahtlos weitergeführt werden. In der Zwischenzeit prüft ein Projektteam des AJB zusammen mit den Entscheidungsträgern und -trägerinnen andere Anbindungen. Dieses Projekt zeigt: Gute Ideen haben Chancen – was es dafür braucht, sind Mut seitens Initianten aber auch innovationsfreudige Strukturen seitens Behörden, die hier mit Greenhouse gegeben waren.